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05.12.2025

07.01.2025

Brüche verstehen: Von Mikrostrukturen bis zu Erdbeben


David Kammer beschäftigt sich in seiner Forschung mit einem eher unbeliebten Phänomen: dem Bruch. Mithilfe von Computersimulationen und Laborexperimenten untersucht er Brüche auf allen Größenskalen - von nanoskaligen Phänomenen in Kollagenfasern bis hin zu tektonischen Prozessen bei Erdbeben. Dabei konzentriert er sich auf die Rolle minimaler Veränderungen, die große Auswirkungen auf die Materialeigenschaften haben können.

Brüche sind etwas, das man in der Regel vermeiden will: Niemand bricht sich gerne den Arm, und Materialbrüche in Gebäuden oder Brücken können sogar lebensgefährlich sein. Für David Kammer hingegen sind sie ein Schlüssel, um tiefere Einblicke in die physikalischen Mechanismen von Materialien und Naturprozessen zu gewinnen.

Als Assistenzprofessor für Rechnergestützte Mechanik von Werkstoffen am Departement Bau, Umwelt und Geomatik der ETH Zürich untersucht er, wie Brüche entstehen und sich ausbreiten - und wie man sie gezielt vermeiden oder kontrollieren kann.

Vom Kleinen bis zum Großen

"Unsere Forschung deckt ein breites Größenspektrum ab - von kleinsten Bestandteilen in Beton oder Fasern im menschlichen Körper bis hin zu tektonischen Platten, die bei Erdbeben eine Rolle spielen", erklärt Kammer. Dabei nutzt seine Forschungsgruppe vor allem mathematische Modelle, um den oft rätselhaften Eigenschaften von Brüchen auf den Grund zu gehen. "Diese Modelle sind recht simpel, berücksichtigen aber dennoch viele physikalische Prozesse gleichzeitig und erlauben uns dadurch einen tiefen Einblick und ein besseres Verständnis der Phänomene."

Jeder Bruch beginnt mit einer Schwachstelle: Eine Stelle im Material gibt nach und löst eine Kettenreaktion aus, die zum Bruch führt. Wie das genau abläuft, hängt stark vom Material ab. In einem Gemeinschaftsprojekt mit Forschenden in den USA modellierte Kammer beispielsweise Kollagenfasern in menschlichen Knochen. Klinische Daten hatten gezeigt, dass Knochen von Menschen mit Typ-2-Diabetes anfälliger für Brüche sind als die von gesunden Menschen. Eine Hypothese war, dass bei Diabetes die Kollagenmoleküle im Knochen stärker vernetzt sind. Kammers Simulation bestätigte diese Annahme: Schon kleinste mikroskopische Veränderungen führen dazu, dass die Kollagenfasern spröder werden, was die Stabilität des Knochens erheblich beeinträchtigt.

Schneller als das Tempolimit

Sobald in einem Material ein Bruch entsteht, entscheidet dessen Ausbreitungsgeschwindigkeit über das weitere Schicksal des Materials. Kammers Simulationen bieten Erklärungen für scheinbar rätselhafte oder widersprüchliche Phänomene. So war unter anderem bekannt, dass Brüche, wie sie auch Erdbeben unterliegen, sich in bestimmten Materialien schneller ausbreiten als bisher angenommen. Normalerweise begrenzt die sogenannte Rayleigh-Geschwindigkeit - ein Tempolimit, dass sich aus physikalischen Gesetzen und Materialeigenschaften ergibt - die Bruchausbreitung.

Kammers Forschung zeigt jedoch, dass minimale Änderungen in den Annahmen diese Grenze aufheben können. Nimmt man an, dass die Verformung des Materials unter Belastung nicht linear, sondern leicht nichtlinear verläuft - dass also eine doppelte Kraft mehr als eine doppelte Verformung bewirkt -, dann kann sich der Bruch schneller ausbreiten als erwartet. Die zugrundeliegenden physikalischen Gesetze bleiben dabei unverändert. "Unsere Studien belegen, dass bereits eine geringe Nichtlinearität in den Materialeigenschaften ausreicht, um die Bruchgeschwindigkeit zu erhöhen", erklärt Kammer. "Dieses Ergebnis öffnet die Türen für viele weitere Fragestellungen in der Bruchdynamik."

Gezielte Defekte stoppen Brüche

Zu Kammers Forschungsschwerpunkten gehört auch die Untersuchung von Materialien mit künstlichen Strukturen, sogenannten Metamaterialien. Diese werden durch spezielle geometrische Gitterstrukturen - oft inspiriert von natürlichen Formen wie Bienenwaben - auf bestimmte Eigenschaften hin optimiert. "Metamaterialien sind ein echtes 'Hot Topic'", betont Kammer, "aber über ihre Brucheigenschaften wissen wir noch viel zu wenig."

Bei der Simulation von Brüchen in diesen Materialien machte Kammer eine bemerkenswerte Entdeckung: Wenn man gezielt Defekte in die Struktur einbaut, breiten sich Brüche nicht etwa leichter aus - eher im Gegenteil. Der Defekt lenkt den Bruch aus seiner "Ideallinie" ab, und durch diesen erzwungenen Umweg muss der Bruch mehr Energie für seine Ausbreitung aufwenden. Dadurch wird er letztlich ausgebremst. Diese Erkenntnis, die Kammers Team nun auch im Labor testet, könnte neue Ansätze für die Gestaltung von Materialien bieten, die gezielt gegen Brüche resistent gemacht werden.

Auch auf der Makroskala, etwa bei der Analyse von Erdbeben, stellt Kammer grundlegende Annahmen infrage. Um die Entstehung und Ausbreitung von Erdbeben besser zu verstehen, greifen Forschende häufig auf Laborexperimente zurück, um theoretische Modelle zu testen. Kammer hat einige dieser Experimente unter die Lupe genommen und belegt, dass bislang weniger beachtete Ansätze die Laborresultate besser beschreiben als herkömmliche Modelle. "Um zu verstehen, ob unsere neuen Ansätze auch wirkliche Erdbeben besser beschreiben, müssen wir allerdings die Bedingungen an den tektonischen Bruchstellen besser kennen", sagt Kammer. Zum Beispiel kommt es, ähnlich wie bei den Kollagenfasern in menschlichen Knochen, auch bei Erdbeben entscheidend darauf an, wie spröde die tektonischen Platten sind.

Die Entstehung und Ausbreitung von Brüchen geben der Wissenschaft noch immer viele Rätsel auf. Sie besser zu verstehen, ist in vielen Bereichen von zentraler Bedeutung, insbesondere mit Blick auf die Sicherheit von Materialien und Strukturen. Kammers Forschung zeigt, wie kleine Änderungen in der Struktur oder in den Annahmen große Auswirkungen haben können.

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Quelle: ETH Zürich