22.05.2014
Computerchemie als atomare Lupe für biologische Systeme
Mit konventionellen Experimenten ist es sehr schwierig, biologische Makromoleküle wie Proteine in ihrer Gesamtheit auf atomarer Ebene zu betrachten. Prof. Dr. Christine Peter entwickelt an der Universität Konstanz deshalb spezielle Computermodelle, die das vielschichtige Zusammenspiel der Atome berechnen und darstellen können. Damit erforscht sie die chemischen Grundlagen komplexer biologischer Phänomene wie der Proteinfaltung oder der Stabilität von Virushüllen.
Um die physikochemischen Grundlagen so komplexer Phänomene wie der Selbstaggregation von Proteinen oder der Biomineralisation bei der Knochenbildung zu untersuchen, müssten alle beteiligten Atome und die auf sie einwirkenden Kräfte berücksichtigt werden, was in einem klassischen Laborexperiment praktisch unmöglich ist. Christine Peter, Professorin für Theoretische und Computergesteuerte Chemie an der Universität Konstanz, verfolgt darum einen anderen Ansatz, um die chemischen Grundlagen biologischer Strukturen und Prozesse zu erforschen. Mit ihrer Arbeitsgruppe entwickelt sie Computersimulationen, die es ermöglichen, in ein System hineinzuschauen. "Wir machen sozusagen Experimente im Computer, um ein mikroskopisches Bild der untersuchten Strukturen zu erhalten", erklärt sie das Konzept ihrer Arbeit.
Simulationsarbeit - Ermitteln, Testen und Verifizieren
Während im Labor meist nicht einzelne Atome oder Moleküle, sondern ein Mittelwert über eine riesige Anzahl von Atomen oder Molekülen betrachtet werden, können in der Computersimulation ganz gezielt und auf einer sehr viel tieferen Ebene einzelne Parameter geändert und beobachtet werden. So erhalten die Forscher Aufschluss über die Triebkräfte, die den im Experiment oder im wahren Leben beobachteten Phänomenen zu Grunde liegen. "Man kann wie mit einer atomaren Lupe auf das System schauen und den Atomen und Molekülen in Aktion zusehen", beschreibt Christine Peter.
Bevor ein solches "Experiment im Computer" durchgeführt werden kann, muss aber zuerst ein Modell zusammengestellt werden, das alle nötigen Parameter enthält. Dazu zählen vor allem chemische Wechselwirkungen zwischen den beteiligten Atomen und Molekülen und Referenzgrößen, die aus experimentellen Daten bekannt sind. "Beispielsweise bei einem Modell für Wasser wären das unter anderem die Dichte und die Dielektrizitätskonstante", erklärt Christine Peter. Zusätzlich werden noch Größen eingearbeitet, die aus quantenchemischen Rechnungen ermittelt wurden. Häufig geht ein beträchtlicher Anteil der Simulationsarbeit in das Ermitteln, Testen und Verifizieren der nötigen Parameter. "Wenn man dann einen verlässlichen Satz an Modellparametern für das betreffende System erstellt hat, kann man erst richtig loslegen", so Peter weiter.
Simulation als Bindeglied zwischen Experiment und Theorie
Zuerst muss jedes Modell überprüft werden, indem man bereits bekanntes experimentelles Wissen über das System reproduziert. Im nächsten Schritt können Computersimulationen auch helfen, experimentelle Daten zu erklären und mikroskopisch zu interpretieren. "Aus einer experimentellen Messung erhält man meist keine direkten Informationen über die Positionen von Atomen oder die Strukturen von großen Molekülen, sondern man misst irgendein Signal, Spektrum, oder Ähnliches", beschreibt Peter. Wenn man aus der Simulation eine Hypothese über Positionen, Strukturen, Bewegungen der beteiligten Atome und Moleküle in diesem Experiment hat, kann man dann das zu erwartende experimentelle Signal berechnen, wenn der Zusammenhang zwischen beiden bekannt ist. Das theoretisch zu erwartende und das tatsächlich gemessene Ergebnis können anschließend verglichen werden. "Stimmen sie überein, so hat man sowohl eine Bestätigung des Simulationsmodells als auch eine mikroskopische Interpretation des Experiments", schildert die Chemikerin.
Anhand der Computersimulationen lassen sich aber nicht nur bekannte Daten und Experimente reproduzieren und erklären, mit ihnen können auch Vorschläge für neue Experimente und Prognosen für unbekannte Größen gemacht werden. "Die Simulation fügt dann ein weiteres Puzzlestück zum Gesamtverständnis eines Systems oder Phänomens hinzu", erläutert Peter. Da dieses neue Daten-Puzzleteil nicht immer im Labor direkt überprüft werden kann, muss im Kontext des Systems theoretisch geprüft werden, ob es mit den vorhandenen Daten aus Experimenten und Simulationen schlüssig zusammengreift und ein stimmiges Gesamtbild über ein System ergibt.
Von fein bis grob - Beobachtungen auf vielen Ebenen
Christine Peter beschäftigt sich in ihrer Forschung nicht nur mit Modellen für kleine Moleküle, sie untersucht auch komplexe biologische Systeme wie die Proteinfaltung und -aggregation. Mit Modellen auf Einzelatom-Ebene kann zwar die Faltung von einer kürzeren Peptidkette auf Zeitskalen bis zu wenigen Mikrosekunden simuliert werden.
Wenn man allerdings die Faltung größerer Proteine oder sogar die Bildung von Proteinaggregaten simulieren will, die sich in Zeitskalen von Millisekunden oder sogar Sekunden bewegen, dann sind Modelle mit geringerer Auflösung nötig. Bei dieser vergröberten Auflösung werden nicht mehr einzelne Atome betrachtet, sondern Gruppen von Atomen, die als Einheiten zusammengefasst wurden. "Durch diese Vergröberung können bei gleicher Computerleistung größere Systeme oder längere Zeitskalen simuliert werden", nennt Peter die Vorteile. Die Herausforderung liegt dabei in der Verknüpfung der Modelle unterschiedlicher Auflösung zu einem stimmigen Gesamtbild, der sogenannten Multiskalensimulation. Die gröberen Modelle werden dafür auf die Modelle höherer Auflösung systematisch aufgebaut, wobei in jeder weiteren Ebene einige Aspekte weggelassen werden.
"Bei dieser Vergröberung muss man sich natürlich bewusst sein, dass man die Ebene, auf der 'die Chemie stattfindet', also Elektronenhüllen der Atome, nicht mehr betrachtet, sodass das Modell auch nicht mehr alle Details darstellen kann", erklärt Peter die Einschränkungen. Bei der Multiskalensimulation muss deshalb sorgfältig aufgepasst werden, für welche Fragestellungen man ein vereinfachtes Modell anwenden und inwiefern man mit einem solchen Modell Vorhersagen machen kann. Werden diese Aspekte berücksichtigt, bekommt man Zugang zu neuen Größenordnungen und kann sich biologisch relevanten Fragen zuwenden.
"Wir untersuchen mit unseren Modellen beispielsweise, wie sich große Multiproteinkomplexe in unserer Zelle zusammensetzen oder woher die mechanische Stabilität von Virenhüllen kommt", so Peter. Auf diesem Weg konnten sie zum Beispiel bereits untersuchen, warum Virushüllen an bestimmten Stellen durch spezielle Proteinstrukturen, sogenannte Beta-Barrels verstärkt sind, was ihnen eine größere Widerstandsfähigkeit gegenüber Druck verleiht. "Das bisherige theoretische Modell beinhaltete diese Eigenschaft nicht, unsere Forschung konnte also eine bestehende Lücke in der Theorie schließen", Christine Peter.
Quelle: © BIOPRO Baden-Württemberg GmbH