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30.06.2024

04.11.2005

Wissenschaftler äußern Besorgnis über die Verbreitung toxischer Substanzen

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Am 15. November wird das Europäische Parlament zu einem Vorschlag für eine neue internationale Chemikalienregulierung abstimmen. Mitglieder von CASCADE, einem von der EU geförderten Wissenschaftsnetz, dem auch das GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit angehört, nehmen dazu Stellung.

Flammschutzmittel in Computern, Konservierungsstoffe in Nahrungsmitteln und Weichmacher in Kunststoffen - um uns herum, in unserer Gesellschaft, gibt es über 100.000 chemische Stoffe. Die weltweite Chemikalienproduktion ist von einer Million Tonnen im Jahr 1930 auf heute 400 Millionen Tonnen gestiegen. Bei mehr als 80 Prozent der heute verwendeten Chemikalien ist das Wissen nicht ausreichend, um eine Risikobeurteilung dieser Stoffe für die menschliche Gesundheit und die Umwelt vornehmen zu können.

Viele wissenschaftliche Studien zeigen, dass die von der Industrie hergestellten chemischen Stoffe in Mensch und Tier nachweisbar sind. Vor kurzem berichtete der World Wildlife Fund, dass eine Mischung aus bis zu etwa 70 verschiedenen Stoffen, die nicht natürlich in der Umwelt vorkommen, im Blut von drei Generationen von Menschen in Europa nachweisbar waren. Von neuen Stoffen, wie z.B. bromierten Flammschutzmitteln, wurden die höchsten Konzentrationen bei Kindern nachgewiesen. Eine andere Studie des World Wildlife Fund untersuchte das Auftreten von chemischen Stoffen im Nabelschnurblut ungeborener Babys und kam zum dem Ergebnis, dass alle Blutproben synthetische chemische Stoffe enthielten. Viele chemische Stoffe werden während der Schwangerschaft von der Mutter an den Feten weitergegeben. Dazu kommt, dass viele Chemikalien stabil sind und deshalb für den Rest unseres Lebens im Körper abgelagert bleiben. Haben diese Chemikalien auch Auswirkungen auf unsere Gesundheit?

In den westlichen Ländern kann man heute beobachten, dass viele Krankheiten auf dem Vormarsch sind, wie z.B. Hodenkrebs, Diabetes, Allergien, Unfruchtbarkeit, vorzeitige Pubertät und Demenzstörungen. Diese Zunahme ist teilweise auf unseren veränderten Lebensstil zurückzuführen und auch darauf, dass wir mehr essen und uns weniger bewegen. Aber es besteht auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Zunahme mancher Krankheiten durch die vielen chemischen Stoffe bedingt ist, denen wir als ungeborene Babys, Kinder und Erwachsene ausgesetzt sind und die unser Hormonsystem beeinflussen und langfristig zu Krankheiten führen. Besonders für ungeborene Babys ist die Exposition gegenüber hormonverändernden chemischen Stoffen in der Entwicklungsphase schlecht, weil für die normale Entwicklung des Feten empfindliche hormonale Regelmechanismen ausschlaggebend sind. Zudem können Chemikalien während der Entwicklung des Feten den Grundstock für Krankheiten legen, die erst Jahrzehnte später ausbrechen. Das bedeutet, dass wir die Auswirkungen des heutigen Einflusses von Chemikalien eventuell erst in 20 bis 30 Jahren sehen werden.

Im November wird das Europäische Parlament zu einem Vorschlag für eine neue internationale Chemikalienregulierung Stellung nehmen. Hinter diesem neuen Verordnungsvorschlag, der die Bezeichnung REACH trägt, steht das Bestreben, alle Chemikalien, die in der Industrie verwendet werden, registrieren, bewerten und genehmigen zu lassen und die Verbreitung gesundheitsschädlicher Chemikalien zu beschränken. Es erscheint selbstverständlich, dass keine chemischen Stoffe in die Umwelt gelangen dürfen, doch das ist leider der Fall.

REACH ist in Europa auf starken Widerstand gestoßen, insbesondere seitens der chemischen Industrie. Der Grund dafür ist, dass der Vorschlag die Forderung enthält, die Industrie solle die Verantwortung für die Untersuchung und Bewertung der Risiken der chemischen Stoffe übernehmen, die sie herstellt oder importiert. Im Herbst diskutierte ein parlamentarischer Ausschuss der EU die vorgeschlagene REACH-Verordnung. Der Ausschuss für Industrie und Binnenmarkt unterbreitete einen abgeänderten Vorschlag, der geringere Anforderungen für die Untersuchung von Chemikalien und eine geringere Verantwortung für die Industrie zur Finanzierung dieser Untersuchungen enthielt. Das Votum des Umweltausschusses fiel jedoch zu Gunsten der Beibehaltung von REACH in einer weniger veränderten Form aus, mit der Forderung an die Industrie, die volle Verantwortung für die hergestellten chemischen Stoffe zu übernehmen.

Die Politiker im Parlament und in der Kommission unterlagen einem starken Druck, nicht für REACH zu stimmen. Die Gegner von REACH warnen, dass Tausende von Arbeitsplätzen verloren gehen werden, wenn REACH verabschiedet wird. Die Befürworter von REACH halten es dagegen für selbstverständlich, dass die Industrie, die mit der Herstellung von chemischen Stoffen Gewinne erzielt, auch an der Untersuchung der Risiken dieser Stoffe beteiligt sein und die Kosten dafür tragen soll. Es lässt sich eine deutliche Parallele zur pharmazeutischen Industrie ziehen, die für jedes neue Produkt strenge Tests durchführen und finanzieren muss, bevor das Produkt als Medikament zugelassen wird und in den Handel gelangt.

Als Wissenschaftler, die sich mit der Erforschung hormonverändernder Substanzen befassen, sind wir der Ansicht, dass die Abstimmung zu Gunsten von REACH von größter Wichtigkeit ist und dass der Vorschlag die Verpflichtung zu Untersuchungen bei der Mehrheit aller chemischen Stoffe enthalten soll. Wir sind der Ansicht, dass die Feststellung, wie ein chemischer Stoff verwendet werden soll, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen über die toxischen Eigenschaften des chemischen Stoffs und nicht primär den Umfang der Produktion beruhen soll. Der Verband der europäischen chemischen Industrie CEFIC hält die heutige Situation mit dem Auftreten von chemischen Stoffen im menschlichen Blut nicht für alarmierend, da chemische Stoffe nur in relativ geringen Mengen festgestellt werden. Da aber viele Chemikalien Wechselwirkungen verursachen, ist nicht nur die gesundheitsschädliche Wirkung eines Stoffs allein zu untersuchen, sondern es müssen auch Wirkungen der gleichzeitigen Exposition gegenüber Kombinationen von vielen Stoffen und jahrzehntelanger Expositionszeiten untersucht werden.

Wir sind der Meinung, dass das Europäische Parlament die Langzeitwirkungen der Exposition gegenüber chemischen Stoffen berücksichtigen und die Bevölkerung Europas vor einem unfreiwilligen Kontakt mit solchen Stoffen schützen muss. Zur Vermehrung unseres Wissens über die Wirkungen von chemischen Stoffen auf unsere Gesundheit verlangen wir eine stärkere Konzentration auf die Erforschung von und Aufklärung über Umweltgifte und auf die Entwicklung von Tests zur Ermittlung der Gesundheitsrisiken chemischer Stoffe. Wichtig ist auch, dass REACH klarstellt, wer die Untersuchung der chemischen Stoffe finanzieren wird, unabhängig davon, ob die Industrie oder die europäischen Nationen die Hauptverantwortung für diese Untersuchungen haben.

Des Weiteren sind wir der Meinung, dass sich der REACH-Vorschlag mit der Strategie der EU vereinbaren lässt, die wettbewerbsfähigste und wissensorientierteste Wirtschaftsregion der Welt zu werden, in der Verbraucher die Möglichkeit haben, sichere Produkte, wie z.B. giftfreie Nahrungsmittel, anstelle von Produkten zu wählen, deren Zutaten mit einer gewissen Unsicherheit belastet sind und die nicht kontrolliert sind. Ein gut kontrolliertes chemisches Produkt wird aller Wahrscheinlichkeit nach einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz haben, wenn informierte Verbraucher sich entschließen, im Sinne des Umweltschutzes zu handeln. Zum Beispiel spielt die Frage der Lösungsmittel in Farben offensichtlich eine erhebliche Rolle bei der Kaufentscheidung. Eine kurzsichtige Denkweise und ein Mangel an Wissen haben in den 70er Jahren dazu geführt, dass toxische Substanzen wie Dioxine und polychlorierte Biphenyle (PCB) sich in der Umwelt verbreiten konnten. Trotz der Tatsache, dass PCB heute verboten sind und Anstrengungen unternommen werden, den Ausstoß von Dioxinen zu begrenzen, finden sich diese Substanzen heute noch in Lebensmitteln und Umwelt. Erhebliche Kosten sind nötig, um die Mengen dieser Verbindungen in der Nahrungskette zu reduzieren.

Wenn die REACH-Verordnung vom Europäischen Parlament angenommen wird, ersetzt sie 40 EU-weite Gesetze. REACH ist eine gemeinsame, harmonisierte Verordnung für alle EU-Mitgliedstaaten. Unabhängig von der Einstellung gegenüber der Wirtschafts- und Agrarpolitik der EU oder einer möglichen Europäischen Vereinigung ist die Umweltpolitik ein Bereich, in dem die EU durch strengere Gesetze eine positive Wirkung auf Europa insgesamt erzielen kann. Eine giftfreie Umwelt sollte ein Ziel sein, das ganz oben auf der Wunschliste aller Bürger der EU steht.

Am 15. November wird das Europäische Parlament über den REACH-Vorschlag abstimmen. Wir unterstützen unsere Abgeordnete im Europäischen Parlament nachdrücklich bei ihrem Einsatz für einen sicheren Umgang mit chemischen Stoffen in Europa.

Quelle: GSF - Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit