Analytik NEWS
Das Online-Labormagazin
08.11.2024

28.07.2020

Vielversprechende Biomoleküle aus Spinnengift

Teilen:


Für die Menschen zählen Spinnen eher zu den unliebsamen Vertretern der heimischen Fauna. Wissenschaftler der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) und des Fraunhofer Instituts für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie (Fraunhofer IME-BR) dagegen stellen den achtbeinigen Tieren derzeit mit großem Engagement nach. Ihr Interesse gilt den Giften der Spinnen, die vielversprechende Komponenten für eine Weiterentwicklung in Richtung von Pharmazeutika oder Bioinsektiziden beinhalten könnten.

Die Entdeckung von Biomolekülen aus dem Gift der einheimischen Wespenspinne hat das Forschungsteam kürzlich unter dem Titel An Economic Dilemma between Molecular Weapon Systems May Explain an Arachno-Atypical Venom in Wasp Spiders (Argiope bruennichi) in der Fachzeitschrift "Biomolecules" veröffentlicht.

Die Forschung an Spinnengiften konzentrierte sich bislang auf die großen und gefährlichen Arten aus den Tropen. Mehrere Moleküle mit vielversprechendem Potenzial in der Behandlung von Schlaganfällen und Formen der Epilepsie sind aus dem Gift von australischen und afrikanischen Spinnen isoliert worden. Über die Gifte der einheimischen Arachnofauna weiß man hingegen nur sehr wenig.

Die Gießener Wissenschaftler erforschen in dem durch das LOEWE-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik (LOEWE-TBG) geförderten Projekt "Tiergifte" unter anderem die Zusammensetzung und die Anwendungsmöglichkeiten der heimischen Spinnengifte. In diesem Zusammenhang wurde auch die farbenprächtige Wespenspinne Argiope bruennichi untersucht.

"Das Gift der Wespenspinne ist für uns von seiner Zusammensetzung her hochgradig spannend, denn es stellt viele Grundannahmen in Frage, die wir anhand der tropischen Arten über Spinnengifte im Allgemeinen formuliert haben", sagt Tim Lüddecke vom Fraunhofer IME-BR, der sich im Rahmen seiner Doktorarbeit (Betreuer: Prof. Dr. Andreas Vilcinskas, JLU und IME-BR) den Spinnengiften widmet. "Normalerweise wird davon ausgegangen, dass Spinnengifte hochkomplex sind und von tausenden kleinen Neurotoxinen dominiert werden, die regelrechte Proteinknoten bilden und daher physiologisch sehr robust sind.

Unsere Daten zeigen aber eindeutig, dass die Wespenspinne stattdessen nur auf etwa 50 verschiedene, eher hochmolekulare Bestandteile in ihrem Gift zurückgreift. Die typischen Neurotoxine scheinen nur eine äußerst untergeordnete Rolle zu spielen", erläutert Lüddecke. Besonders überraschend sei die Entdeckung gewesen, dass sich ein Großteil der identifizierten Giftkomponenten einer einzigen Proteinfamilie zuordnen lassen ließ.

"Erstaunlich ist auch, dass die Wespenspinne Komponenten in ihrem Giftapparat produziert, die bislang noch nie in einem Spinnengift identifiziert werden konnten", sagt Forschungsleiterin Dr. Sarah Lemke vom Institut für Insektenbiotechnologie der JLU. "Wir konnten mehrere Proteine im Gift der Spinne nachweisen, die strukturell den Hormonen verschiedener Insekten ähneln. Deren biologische Funktion sowie anwendungstechnisches Potenzial gilt es jetzt aufzuklären".

An der Studie beteiligt ist außerdem Evolutionsbiologe Dr. Björn von Reumont, der im LOEWE TBG die Gruppe "Tiergifte" koordiniert und ebenfalls am Institut für Insektenbiotechnologie der JLU arbeitet. Seiner Einschätzung nach ist der ungewöhnliche Giftcocktail der Wespenspinne das Resultat einer Konkurrenz um Ressourcen. "Im Gegensatz zu den meisten anderen Spinnen steht der Giftapparat bei der Wespenspinne beim Beutefang nicht unbedingt im Fokus. Stattdessen wird die Beute primär durch die Verwendung der Spinnseide erlegt. Sowohl Spinnseide als auch Spinnengift stellen ,teure' Innovationen dar. Es ist daher vorstellbar, dass die Bevorzugung der Spinnseide zu einer Reduktion des Giftsystems geführt hat", so von Reumont.

Die bisherigen Studienergebnisse zeigen, wie wichtig die Erforschung auch einheimischer Spinnengifte ist. Es wird geschätzt, dass sich aus den 50.000 bekannten Spinnenarten etwa zehn Millionen pharmazeutisch nutzbare Substanzen isolieren lassen. Allerdings ist weniger als ein Prozent dieser Substanzen der Wissenschaft bislang bekannt. "Nur die Einbeziehung unserer bislang vernachlässigten Spezies wird es ermöglichen, diese Schatztruhe an neuen Biomolekülen vollumfänglich erschließen zu können. Wir hoffen mit unserer Arbeit in Gießen einen wertvollen Beitrag zur Erfassung und zum Erhalt dieser wertvollen Bioressourcen zu leisten", erklärt Lüddecke. Und sein Kollege von Reumont ergänzt: "Der Verlust von Biodiversität geht auch immer mit dem Verlust von wertvollen Bioressourcen einher."

» Originalpublikation

Quelle: Universität Gießen