27.09.2016
Quantenmechanik setzt etabliertes chemisches Reaktionsprinzip außer Kraft
Im Prinzip folgen chemische Reaktionen der kinetischen oder thermodynamischen Kontrolle: Sie verlaufen in Richtung der Reaktion mit der geringsten Barriere oder in Richtung der energetisch günstigsten Reaktion. Die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Peter R. Schreiner, Institut für Organische Chemie der Justus-Liebig-Universität Gießen konnte zeigen, dass das etablierte Konzept nicht immer anwendbar ist.
Die Selektivität in einer chemischen Reaktion lässt sich sehr oft mit der flexiblen räumlichen Gestalt des reagierenden Moleküls erklären, der sogenannte Konformere. Ein (Bio)Katalysator zum Beispiel kann so die Selektivität einer Reaktion erhöhen, indem er eines von mehreren Konformeren auswählt, gezielt aktiviert und zur Reaktion bringt. Damit dies überhaupt möglich ist, müssen sich die verbleibenden Konformere schnell in das reagierende Konformer umwandeln, damit immer wieder "Nachschub" für die eigentliche Reaktion zur Verfügung steht. Dieses etablierte kinetische Konzept der Chemie und Biochemie wird als Curtin-Hammett-Prinzip bezeichnet. Es ist der Grundpfeiler vieler hochselektiver enzymatischer und chemischer Reaktionen.
Das Curtin-Hammett-Prinzip gilt jedoch nicht immer, wie die Gießener Chemiker zeigen konnten. Anhand des erstmalig dargestellten Moleküls Trifluormethylhydroxycarben (F3C-C-OH) wurde veranschaulichten sie, dass eines der beiden Konformere durch eine quantenmechanische Tunnelreaktion abreagiert, während das andere unverändert bleibt. Damit gelang ihnen der erste Nachweis von konformer-spezifischem Tunneln: Da sich das verbleibende Konformer nicht - wie vom Curtin-Hammett-Prinzip gefordert - in das abreagierende Konformer umwandelt, ist dieses Prinzip außer Kraft gesetzt.
Die Untersuchung des Phänomens erfolgte durch die sogenannte Matrixisolationstechnik, bei der Moleküle nahe dem absoluten Nullpunkt bei etwa minus 270°C eingefroren werden. Bei solch tiefen Temperaturen reicht die Energie im Allgemeinen nicht aus, um Reaktionsbarrieren zu überwinden - die Moleküle sind im wahrsten Sinne des Wortes in einer Kältestarre. Trifluormethylhydroxycarben konnte trotzdem reagieren, was nur durch quantenmechanisches Tunneln ermöglicht wurde. Dieses ungewöhnliche und in der Chemie lange ignorierte Phänomen wird seit einigen Jahren intensiv von der AG Schreiner untersucht und hat in der Fachwelt weltweit großes Echo erzeugt. Das aktuelle Beispiel zeigt zum wiederholten Mal, dass etablierte Reaktionsprinzipien durch Tunnelreaktionen ausgehebelt werden können und sich somit eine vollkommen andere Reaktivität von Molekülen einstellen kann.
Quantentunneln ist eines der seltsamsten Phänomene der Quantentheorie. Es erlaubt die Umwandlung eines Moleküls in ein anderes, in dem es durch statt über eine Energiebarriere reagiert. "Man könnte einen solchen Tunnelprozess bildhaft mit der Durchquerung eines Alpengipfels vergleichen, allerdings ohne jegliche Tunnelbohrung", erläutert Prof. Peter. R. Schreiner. Ein solcher Vorgang folgt nicht den Gesetzen der klassischen Physik, sondern vielmehr denen der Quantenmechanik. In der Weiterentwicklung solcher Studien können sich also neue und ungeahnte Möglichkeiten zur Kontrolle von Selektivitäten chemischer Reaktionen eröffnen.
Quelle: Universität Gießen