15.12.2003
Multifunktionale Oberflächen als Schlüsseltstechnologie von morgen
Die Lotusblume gab lange Zeit das Rätsel auf, warum sie durch nahezu nichts in ihrer Schönheit zu trüben ist und selbst Schlamm an ihren Blättern abperlt. Dann entdeckten Wissenschaftler zu Beginn der 1980er Jahre, dass eine im Mikro- und Nanobereich sehr wirkungsvoll strukturierte (und nicht etwa eine besonders glatte) Oberfläche das reine Äußere der Lotusblätter ermöglicht. Die im Laufe der Evolution optimierte Oberflächenstruktur wehrt zuverlässig Schmutz und vor allem Mikroorganismen ab - ein guter Schutzmechanismus der Pflanze vor Krankheiten: Bei jedem Regen perlt Wasser von den Blättern und trägt Schmutzpartikel und Keime mit sich. Die Pflanze reinigt sich selbst.
Diese Methode ist nicht zwangsläufig an ein lebendes System gebunden und lässt sich gut auf andere Materialien übertragen. Inzwischen wurden mehrere neuartige Oberflächensysteme für unterschiedliche Materialien entwickelt. Dazu zählen nicht nur selbstreinigende, sondern auch strömungsoptimierte Oberflächen, die beispielsweise auf der Kenntnis der Haifischhaut beruhen. Aufmerksamkeit erregten auch jüngste Entwicklungen im Bereich der "smart materials", die über sich selbst reparierende oder sich anpassende Oberflächen verfügen.
Die Beispiele zeigen, welche Herausforderungen und Chancen es im Bereich der Herstellung "spezialisierter Oberflächenfunktionalitäten" gibt. Allerdings: Neben dem zielgenauen Entwurf solcher Oberflächenfunktionalitäten beziehungsweise erforderlichen Anpassungen müssten gleichzeitig die verwendeten und zu entwickelnden Herstellungsmethoden und Prozesstechnologien ins Blickfeld der Forschung rücken - denn: Die technische Umsetzung der Oberflächenstrukturen scheitert oft an geeigneten Konzepten und Systemen für die konkrete Eingliederung in den Produktionsprozess. So stellt man Bauteile mit oberflächenspezifischen Funktionen in der Regel in einem sequenziellen, also in mehreren Schritten nacheinander ablaufenden Fertigungsverfahren her. Und hieraus folgen nicht nur wirtschaftliche und ökologische Nachteile, zugleich wird oft auch eine Fertigung in größeren Mengen verhindert.
Dies vor Augen, tut sich hier ein - auch wirtschaftlich - zukunftsträchtiges Forschungsfeld auf. Anlass genug für die VolkswagenStiftung, eine Förderinitiative einzurichten mit dem Titel "Innovative Methoden zur Herstellung funktionaler Oberflächen". Mit der Initiative - ein vergleichbares Angebot existiert in der internationalen Förderlandschaft nicht - fordert die Stiftung die Wissenschaft heraus, sich mit innovativen und durchaus auch unkonventionellen Fragestellungen im Bereich der Produktions- und Oberflächentechnik auseinander zu setzen. Sie erhofft sich davon einerseits neue Impulse für die ingenieurwissenschaftliche Forschung in Deutschland. Zum anderen wird eine erfolgreiche Bearbeitung der komplexen Problemstellungen Interdisziplinarität befördern und dabei konkret die Zusammenarbeit von Ingenieuren mit Physikern, Chemikern oder auch Biologen verstärken - denkt man etwa an die Entwicklung neuer Hybridverfahren. Gefördert werden daher ausschließlich Verbundprojekte von mindestens zwei Arbeitsgruppen mit komplementärer Expertise, durchaus unter internationaler Beteiligung. In jedem Fall muss eine ingenieurwissenschaftlich orientierte Arbeitsgruppe beteiligt sein.
Wie beschrieben, stellt die Fertigung multifunktionaler Oberflächen heute eine Schlüssel- und Querschnittstechnologie dar, die für die Entwicklung und Herstellung künftiger Hochtechnologieprodukte von entscheidender Bedeutung sein wird. Besonders interessant erscheint in diesem Zusammenhang die Idee der "integrierten Produktionstechnologie", das heißt die Vereinigung mehrerer Prozessschritte zu einigen wenigen oder gar nur einem Schritt durch die Kombination bestehender oder Entwicklung neuer Fertigungsverfahren. So gibt es zwar für zahlreiche Anwendungsbereiche hoch spezialisierte Oberflächen, deren Herstellungsprozess ist jedoch meist zeit- oder kostenintensiv und teilweise auch mit einer starken Belastung der Umwelt verbunden. Beispiele dafür sind chirurgische Instrumente, Datenträger für EDV-Anwendungen oder Sensoren mit auf Licht, Druck oder Temperatur reagierenden Oberflächen. All diese Funktionalitäten werden bislang durch modifizierte Oberflächen realisiert, die im Regelfall durch einen sich an die eigentliche Bauteilfertigung anschließenden Fertigungsprozess hergestellt werden. Diese - oben schon kurz angesprochene - sequenzielle Fertigungsweise bringt sowohl erhebliche ökonomische (höhere Fehlerwahrscheinlichkeit, lange Herstellungszeit, geringe Flexibilität etc.) als auch ökologische Nachteile (kein "Clean-Prozess" möglich, erhöhte Mengen an Abfall, mehr Produktionsmitteleinsatz etc.) mit sich.
Folglich sind viele interessante Forschungsvorhaben zur Entwicklung neuartiger Hybridverfahren denkbar. Offenkundig ist, dass ein Erfolg versprechendes Vorhaben möglichst die gesamte Prozesskette in den Blick nehmen sollte: ausgehend vom Verständnis der Oberflächenmodifizierung über die Konzeption eines neuen Fertigungsverfahrens bis hin zu dessen technischer Realisierung.
Quelle: Volkswagen Stiftung