25.04.2023
Deindustrialisierung: Schreckgespenst oder notwendiger Schritt im Strukturwandel?
Unter dem Gesichtspunkt der anstehenden Transformation der deutschen Grundstoffindustrie zu klimaneutraler Produktion sieht Clemens Schneider, Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, in der gegenwärtige Gaskrise sowohl Chancen als auch Herausforderungen. Vor allem die Branchen Chemie, Glas und Stahl seien gefordert, die Abhängigkeit vom Energieträger Erdgas zu verringern, damit sich Strukturwandel und eine starke industrielle Basis im Bereich der Grundstoffe nicht ausschließen.
Michael Hüther, Institut der deutschen Wirtschaft, sieht die Deindustrialisierung als ernstzunehmendes Risiko an. Verliere der Standort Deutschland durch anhaltend hohe Energiepreise und hohe Steuerlast international an Wettbewerbsfähigkeit, werden industrielle Investitionen weniger attraktiv. Diese seien aber für einen Strukturwandel nötig. Politik und Gesellschaft sollten deshalb die gesetzlichen, regulatorischen und investiven Weichenstellungen für eine Transformation ins Zentrum ihres Engagements rücken.
Sylwia Bialek, Claudia Schaffranka und Monika Schnitzer, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, rechnen mit Veränderungen in der Industrie, die Gewinner und Verlierer innerhalb der Wirtschaftszweige hervorbringen werden. Energieeffiziente Unternehmen werden zu den Gewinnern gehören, andere Unternehmen werden aus dem Markt scheiden.
Dies sei aber ein ohnehin anstehender Strukturwandel in der Industrie, der durch die Energiekrise beschleunigt werde. In Zukunft werde Deutschland zum Teil andere Produkte herstellen, mit einer niedrigeren Energieintensität. Für die meisten Unternehmen und Industrien sollte und könnte der Wandel nicht verhindert werden.
Steffen Müller, Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle, stellt die Frage, wie stark die Verteuerung von Gas zu einer Reduktion der industriellen Wertschöpfung in Deutschland führen wird: Die Folgen des Gaspreisschocks betreffen einige wenige Produkte mit hohem Gasverbrauch. Diese Produkte seien meist Vorleistungsprodukte und in vielen Fällen leicht zu importieren.
Allerdings dürften die Folgen des Schocks für einige Branchen, allen voran die deutsche Chemieindustrie, deutlich größer als für andere ausfallen. Hier werde Deutschland über kurz oder lang Produktion verlieren und gasintensive Güter aus dem Ausland zukaufen. Der Staat sollte diesen Strukturwandel zulassen.
Eric Heymann, Deutsche Bank Research, erwartet als Folge der Energiekrise, dass der Anteil des Verarbeitenden Gewerbes an der gesamten Bruttowertschöpfung in Deutschland in den nächsten Jahren weiter zurückgehen wird. In Zukunft sei es wichtiger, zwischen den deutschen Industrieunternehmen auf der einen Seite und dem Industriestandort Deutschland auf der anderen Seite zu unterscheiden. Für erstere sei er optimistischer als für letzteren, denn die großen deutschen Industrieunternehmen könnten ihre Aktivitäten besser internationalisieren und Produktionsstandorte nach ihren individuellen Kostenstrukturen wählen. Für den deutschen Mittelstand sei die Anpassung an eine neue Energiewelt eine größere Herausforderung.
Nach Ansicht von Tobias Maier, Bundesinstitut für Berufsbildung, ist eine Schrumpfung der deutschen Industrie unausweichlich. Allerdings werde der wirtschaftliche Wandel mit einer Deindustrialisierung unvollständig beschrieben. Stattdessen stehe Deutschland vor einer digitalen und sozial-ökologischen Transformation, die über die Industrie hinausgehe und die nur über eine Stärkung der Fachkräftesicherung, insbesondere im Verarbeitenden Gewerbe und Baugewerbe, bewältigt werden könne.
Oliver Falck, Lisandra Flach und Christian Pfaffl, ifo Institut, betrachten die Entwicklung der Automobilindustrie. Neben den aktuellen Herausforderungen durch hohe Energiepreise und Fachkräftemangel befinde sich die Branche in einem tiefgreifenden Strukturwandel. Alternative Antriebe anstelle des Verbrennungsmotors, die Digitalisierung, die Veränderung der Globalisierung sowie der demografische Wandel seien die Treiber der Veränderungen. In diesem Prozess sei es nicht unwahrscheinlich, dass die Bedeutung der Automobilbranche für den Industriestandort Deutschland weiter abnimmt.
Quelle: ifo Institut - Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung