23.09.2019
Neue Forschungsinfrastruktur für bessere Vorhersagen der Luftqualität
Deutschland wird sich ab 2020 in erheblichem Umfang am Aufbau der Europäischen Forschungsinfrastruktur für Aerosol, Wolken und Spurengase (ACTRIS) beteiligen. Die Weichen dafür wurden jetzt mit der Aufnahme des deutschen Beitrags ACTRIS-D auf die Nationale Roadmap für Forschungsinfrastrukturen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gestellt. Durch die Kooperation vieler wichtiger Forschungseinrichtungen in Europa werden künftig bessere Vorhersagen sowohl für die Luftqualität als auch für Wetter und Klima möglich.
In ACTRIS-D arbeiten nahezu alle bedeutenden Akteure der deutschen Atmosphärenforschung zusammen - darunter Universitäten, außeruniversitäre Forschungseinrichtungen und Behörden. Koordiniert wird der deutsche Teil der europäischen Forschungsinfrastruktur durch das Leibniz-Institut für Troposphärenforschung (TROPOS) in Leipzig. Die Zusammenarbeit setzt sich auf europäischer Ebene fort - mit bereits mehr als 120 Institutionen in über 20 Ländern. Eine so große Bündelung von Ressourcen hat es bisher in der Atmosphärenforschung noch nicht gegeben.
In einem dreistufigen Verfahren wurden die im Jahr 2016 eingereichten Forschungsinfrastrukturkonzepte in Deutschland wissenschaftlich und wirtschaftlich bewertet sowie ihre Bedeutung für die Gesellschaft geprüft. Mit der Aufnahme auf die Nationale Roadmap bekundet die Bundesregierung ihre grundsätzliche Bereitschaft, diese Forschungsinfrastrukturen zu fördern. Die konkrete Finanzierung erfolgt durch die zuständigen Ressorts in Abhängigkeit von verfügbaren Haushaltsmitteln.
Weniger Wissen über kurzlebige Klimatreiber als über langlebige Treibhausgase
Trotz großer Fortschritte in der Klimaforschung in den letzten Jahren bestehen immer noch deutliche Unsicherheiten bei der Vorhersage des künftigen Klimas, beispielsweise wie stark die Temperaturen in den kommenden Jahrzehnten ansteigen und wie sich die Niederschläge regional entwickeln werden. Ein Grund dafür ist der Mangel an Daten und Wissen zu kurzlebigen Bestandteilen der Atmosphäre wie zum Beispiel Wolken, Aerosolpartikel und reaktive Gase, die laut dem jüngsten Report des Weltklimarates IPCC immer noch den größten Unsicherheitsfaktor der Klimaszenarien für die Zukunft bilden. Die kurzlebigen Klimatreiber sind in der Regel nur wenige Stunden bis Wochen in der Atmosphäre unterwegs - im Gegensatz zu den langlebigen Treibhausgasen wie Kohlendioxid, die viele Jahre bis Jahrzehnte in der Atmosphäre verbleiben.
Deshalb ist über die Wirkung der langlebigen Treibhausgase deutlich mehr bekannt als über die kurzlebigen Bestandteile, obwohl auch letztere allgegenwärtig sind und das Klima deutlich beeinflussen. So reflektieren winzige Schwebeteilchen beispielsweise Sonnenlicht und Wärmestrahlung oder dienen als Keime für die Bildung von Wolkentropfen und Eiskristallen, womit sie die Niederschlagsbildung beeinflussen. Diese Partikel können sowohl natürlichen Ursprungs wie auch vom Menschen gemacht sein. Der Mensch nimmt durch Landnutzung, Verkehr und Energieerzeugung Einfluss auf die kurzlebigen Klimatreiber, die sehr unterschiedlich wirken können: Rußpartikel tragen zur Erwärmung bei, Sulfat- und Nitratpartikel wirken dagegen abkühlend. Klar ist, alle diese Faktoren wirken sich auf das Klima aus und müssen in den Vorhersagen berücksichtigt werden. Wie groß die zum Teil sehr unterschiedlichen Effekte aber letztlich jeweils sind, ist noch nicht gut genug bekannt.
Wichtiger Gesundheitsfaktor
Neben den Wirkungen auf das Klima haben kurzlebige Bestandteile der Atmosphäre auch einen starken Einfluss auf die Luftqualität und damit auf die menschliche Gesundheit. Schwebeteilchen, umgangssprachlich Feinstaub genannt, und Spurengase führen zu Erkrankungen der Atemwege und reduzieren die Lebenserwartung aufgrund von Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen. Sie stehen im Verdacht, allein in der Europäischen Union pro Jahr für rund 430.000 vorzeitige Todesfälle verantwortlich zu sein, davon etwa 70.000 in Deutschland. Neben den gesundheitlichen Folgen hat die Luftverschmutzung auch gravierende wirtschaftliche Folgen.
Allein die Umweltkosten, die Europas größte Industrieanlagen verursachen, hat die Europäische Umweltagentur (EUA) auf einen zweistelligen Milliardenbetrag pro Jahr geschätzt. Die Diskussion um Dieselabgase in Deutschland und anderen Ländern zeigt, wie eng Luftqualität, Verkehr, Wirtschaft und ökonomische Konsequenzen miteinander verbunden sind. "Luftqualität und Klimawandel betreffen alle - die Gesellschaft als Ganzes und jeden einzelnen von uns. Je besser wir die Prozesse in unserer Umwelt beobachten und verstehen, umso effektiver können wir reagieren, Strategien zur Verbesserung der Luftqualität und zum Schutz des Klimas anpassen. Unsere Langzeitbeobachtungen tragen außerdem dazu bei, die Wirkung der getroffenen Maßnahmen überprüfbar zu machen", erklärt Dr. Ulla Wandinger vom TROPOS, die Koordinatorin des deutschen Beitrags zu ACTRIS und deutsche Kontaktperson für die europäischen Partner ist.
Großer Bedarf an Daten
Die Beispiele aus den Bereichen Klima und Gesundheit zeigen, wie groß der Bedarf an fundiertem Wissen zu den kurzlebigen Bestandteilen der Atmosphäre ist. Die Auswirkungen der menschlichen Aktivitäten auf die Atmosphäre vom einzelnen Auto bis hin zu riesigen Waldbränden können jedoch nur dann abgeschätzt werden, wenn Messungen kontinuierlich und großflächig an vielen Punkten erfolgen, denn die Atmosphäre kennt keine nationalen Grenzen. Deshalb wurde 2016 die paneuropäische Initiative ACTRIS (Aerosol, Clouds and Trace Gases Research Infrastructure) auf die europäische Roadmap für Forschungsinfrastrukturen (ESFRI) aufgenommen.
Ab 2021 soll ACTRIS in der Rechtsform eines ERIC (European Research Infrastructure Consortium) langfristig den Messbetrieb aufnehmen. Zu den langlebigen Treibhausgasen, die bereits EU-weit über die Integrated Carbon Observation System Research Infrastructure (ICOS RI) erfasst werden, kommen dann auch die kurzlebigen Atmosphärenbestandteile hinzu. Eine Vielzahl an Daten über diese relevanten Komponenten, ihre Wechselwirkungen untereinander sowie deren Veränderungen werden jeweils national erhoben und dann zentral in einem Datenportal zusammengeführt.
"Dadurch entsteht eine weltweit einmalige Forschungsinfrastruktur, die Daten für Analysen und Vorhersagen zur Nutzung in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft zur Verfügung stellt. Neben den großen internationalen Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation oder der Europäischen Weltraumagentur stellt ACTRIS wissenschaftlich fundierte Daten auch für die Politik zur Verfügung, auf deren Basis umweltpolitische Entscheidungen getroffen werden können, die die Lebensbedingungen der Bevölkerung verbessern helfen", erläutert Prof. Andreas Macke, Direktor des TROPOS. Weitere Nutzergruppen kommen aus dem öffentlichen und privaten Sektor - darunter Wetterdienste für die Erstellung von Wettervorhersagen aber auch Unternehmen, die Messinstrumente für Aerosolpartikel, Wolken oder Spurengase entwickeln. Der Bedarf an solchen Messgeräten wächst weltweit, da das Bewusstsein für Gesundheitsbeeinträchtigungen und die Folgen des Klimawandels auch in den Schwellenländern gestiegen ist. Damit schafft ACTRIS auch ein innovatives Umfeld für die Entwicklung von hochleistungsfähigen und modernsten Messinstrumenten im Umfeld der Atmosphärenwissenschaften.
Deutscher Beitrag zu paneuropäischer Forschungsinfrastruktur
ACTRIS-D wird den deutschen Beitrag zur europäischen Forschungsinfrastruktur ACTRIS sicherstellen und die deutschen Aktivitäten mit denen der europäischen Partner verknüpfen. Dazu werden zahlreiche Forschungsgruppen an universitären und außeruniversitären Einrichtungen in Deutschland eng zusammenarbeiten. Der deutsche Beitrag zur verteilten Forschungsinfrastruktur wird aus etwa 25 festen und mobilen Observatorien bestehen, die in Deutschland und an weltweit verteilten Standorten betrieben werden. Diese Beobachtungsplattformen werden durch fünf Simulationskammern ergänzt, die Atmosphärenprozesse im Labor untersuchen.
Außerdem beteiligt sich Deutschland an den sechs europäischen Kalibrierzentren, die dafür sorgen werden, dass an allen Standorten einheitlich und mit hoher Qualität gemessen werden kann. Drei dieser Kalibrierzentren sollen auf Grund der vorhandenen Expertise von deutschen Instituten geleitet werden. Damit wird die deutsche Atmosphärenforschung in der Lage sein, einen wesentlichen Beitrag für die paneuropäische Forschungsinfrastruktur zu leisten. Umgekehrt ist die Beteiligung am paneuropäischen Verbund auch für die deutsche Forschung von großer Bedeutung und wird ihr weltweites Ansehen stärken. Durch den freien Zugang zu Daten, Publikationen und Dienstleistungen werden die wissenschaftlichen Ergebnisse auch der Gesellschaft in Deutschland zugutekommen.
Quelle: Leibniz-Institut für Troposphärenforschung (TROPOS)